Kapitel 11
Ein ohrenbetäubender Knall erschütterte die Brücke der U.S.S. Tycho, gefolgt von dem schrillen Aufheulen der Alarmsirenen. Commander Anna Ramirez klammerte sich an die Armlehnen ihres Kapitänssessels, während um sie herum das Chaos ausbrach.
«Bericht!» schrie sie über den Lärm hinweg.
Die Hauptbeleuchtung fiel aus und es war einen Moment lang bis auf den Schein der Bildschirme stockdunkel. Dann sprang die spärliche Notbeleuchtung mit einem Flackern an.
Lieutenant Chen kämpfte an der Conn-Station mit den Kontrollen. «Trägheitsdämpfer auf Decks 1 und 2 ausgefallen, Ma’am! Umschaltung auf sekundäre Dämpfer… erfolglos!» Sie tippte ein paar Tasten, bevor sie jäh ihre Hände von der Konsole wegriss, als hätte sie sich unter ihren Fingern in glühende Kohlen verwandelt. «Die Flugsteuerung wurde notversiegelt! Ab jetzt bedeutet die kleinste Änderung an unserem Bewegungsvektor für alle Lebensgefahr auf diesen Decks!»
«Hauptsensoren offline», meldete nun Conti mit angespannter Stimme von der Ops-Station. «Wir sind blind!»
Ramirez spürte, wie sich ihr Magen umdrehte, als die künstliche Schwerkraft plötzlich versagte und ihre Bewegungen dazu führten, dass sie langsam den Kontakt zu ihrem Sessel verlor. Sie klammerte sich nun noch verzweifelter an die Armlehnen, um nicht unkontrolliert davon zu schweben.
«Was machen die Deflektoren?» donnerte McGregor, der sich ebenso wie Soral halb in der Luft schwebend am Geländer hinter den Kommandosesseln festhielt.
«Deflektoren stabil, Sir!» rief Rostov von der taktischen Konsole zurück.
Ramirez und McGregor sahen sich kurz an, nickten sich dann gegenseitig zu. Solange die Deflektoren in Betrieb waren und die gefährliche interstellare Materie auf ihrem Kurs vor ihnen zuverlässig aus dem Weg räumten, konnten sie das Schiff für den Moment auf seinem Kurs belassen – selbst im Blindflug, in dem sie sich aktuell befanden.
McGregor gab den Befehl zur Evakuation. «An alle: Sofort Decks 1 und 2 vollständig räumen! Ich wiederhole: Sofort Decks 1 und 2 räumen! Das ist keine Übung!»
Zu den Anwesenden gewandt ergänzte er: «Das gilt auch für uns hier. Wir verlegen das Kommandozentrum temporär in den Maschinenraum. Marsch!»
«Maschinenraum, Wissenschaftslabor 3!» rief Ramirez, die nun versuchte, sich ganz wie McGregor langsam in Richtung Tür zu hangeln und die anderen winkend zur Räumung animierte. «Status!»
Kevas Stimme drang durch die Gegensprechanlage. «Captain, es sieht so aus, als verursacht Echo-Modul 5 eine massive Überspannung auf den oberen Decks! Das kann zur Kettenreaktion mit den anderen Modulen und damit allen Decks führen! Wir müssen es hart abschalten, jetzt!»
Nun schaltete sich auch Morro aus dem Wissenschaftslabor ein. «Wir sind schon dabei, Modul 5 ordnungsgemäss herunterzufahren. Die harte Abschaltung könnte das Modul irreparabel beschädigen, ich rate dringend davon ab!», mahnte er.
«Danke, Mr. Morro. Womöglich haben wir keine andere Wahl. Mrs. Keva, Halten Sie sich bereit für die Abschaltung. Wir müssen erst Decks 1 und 2 evakuieren und alle in Sicherheit bringen, bevor wir …» Ramirez wurde von Keva unterbrochen. «Ma’am, jetzt. Sofort!»
Ramirez hielt in ihrer Bewegung inne. Ihre Fingerknöchel wurden weiss, so sehr krallte sie sich an Sessel und Bank fest. Ihr Herz raste. Kevas dringender Ton liess keinen Zweifel am Ernst der Situation, dazu kannte sie sie zu gut. Doch was, wenn die Abschaltung die Lage noch verschlimmerte? Sie atmete tief durch.
«An Decks 1 und 2: Alle bereitmachen für Aufprall, bereit für Aufprall! – Keva, tun Sie es! Abschalten!»
«Aye, Ma’am!»
Es verging ein banger Moment. Die Alarmsirenen heulten weiter. Alle auf der Brücke klammerten sich an ihren Konsolen oder der Reling so fest, wie sie nur konnten. Ihnen war plötzlich mit Erschrecken das Risiko bewusst, dass die Abschaltung auf unvorhersehbare Weise die Laufbahn oder Geschwindigkeit der Tycho verändern könnte. Bei Warp 2, mit der die Tycho aktuell durchs All raste, hatte das ohne den Schutz durch Trägheitsdämpfer möglicherweise tödlichen Folgen.
Ein greller Lichtblitz erfüllte die Brücke, gefolgt von einem markerschütternden Kreischen. Funken sprühten aus den EPS-Leitungen im hinteren Teil der Brücke.
Ramirez fühlte, wie sich ihre Eingeweide zusammenzogen. Für einen Augenblick war sie sicher, dass die Hülle der Tycho auseinanderbrechen würde. In diesem Moment, als die Zeit stillzustehen schien, schloss sie ihre Augen und erwartete das Unvermeidbare.
«Wie konnte alles innerhalb von Minuten so schnell ausser Kontrolle geraten?» rang sie in Gedanken verzweifelt um Verständnis.
[Rückblick]
Der grelle Lichtblitz verblasste, das Kreischen verstummte. Mit einer gewaltigen Vibration setzte die künstliche Schwerkraft wieder ein und die herumschwebenden Gegenstände prasselten geräuschvoll herunter. Ramirez wurde schlagartig von ihrem Gewicht unsanft auf die Bank neben ihrem Sessel gedrückt und McGregor krachte längs auf den Boden, während Soral ihren Aufprall geschickt abfangen konnte. Nun war nur noch der Alarm zu hören.
Ramirez zwang sich, ihre Augen wieder zu öffnen.