Kapitel 3
Wie man aus den Fenstern des modernen Apartments mitten in Buenos Aires sehen konnte, war der Vormittag im Mai leicht verregnet und herbstlich. Drinnen war die Temperatur jedoch angenehm und die indirekte Beleuchtung tauchte die Wohnung in warme Farben. Die Luft trug den Duft von frischem Kaffee, der von einer dampfenden Tasse auf der Kommode des Umkleidezimmers ausging.
Eine Latina, ungefähr Mitte 40, griff zur Tasse und nahm einen genussvollen Schluck Kaffee. Sie betrachtete sich kritisch im Spiegel, der über der Kommode hing. Sie stellte die Tasse wieder ab, strich sich über die kurzen schwarzen Haare und zupfte den roten Kragen ihrer Sternenflotten-Uniform zurecht. Danach nahm sie drei kleine goldene und runde Rangabzeichen in die Hand, die neben der Kaffeetasse lagen, und befestigte sie nacheinander in einer Reihe an ihrem Kragen.
In diesem Moment erschien auf dem Spiegel eine Meldung über einen eingehenden Anruf. Sie betätigte eine der virtuellen Tasten, die nun auf dem Spiegel eingeblendet waren, und nahm das Gespräch an.
«Hallo, Mama», grüsste sie die Frau, deren Gesicht nun auf dem Bildschirm erschien. «Ich muss gleich los ins Hauptquartier. Ist alles in Ordnung?»
«Hola, Anna bonita», grüsste ihre Mutter mit einem besorgten Lächeln zurück, was auf Spanisch so viel wie ‹Hallo, süsse Anna› hiess. «Ich wollte nur sehen, wie es dir geht – und ob du’s dir nicht doch besser überlegt hast.»
«Mama», erwiderte Anna vorwurfsvoll und verdrehte die Augen, «das ist jetzt wirklich nicht der Moment für diese Diskussion. Ich will wieder zurück und die Föderation braucht mich an der Front. Wirklich. Das weisst du ganz genau.»
«Ja, ich weiss, mein Schatz.» Annas Mutter seufzte und wischte eine Träne beiseite, die sich in einem ihrer Augen gebildet hatte. «Es ist nur… Deine Gefangenenschaft ist gerade mal zehn Wochen her. Ach, ich möchte doch nur, dass dir nicht wieder etwas zustösst!»
Es verstrichen zwei Sekunden bedrückter Stille. «Das will niemand und am wenigsten ich», versicherte Anna mit leicht zitternder Stimme, kurz dem Blick ihrer Mutter ausweichend, um sich zu sammeln. Dann schaute sie ihr entschlossen in die Augen. «Jetzt muss ich mich wirklich fertig machen, Mama. Es wird alles gut, versprochen.» Die Offizierin griff erneut zur Tasse und nahm einen kräftigen Schluck.
«OK. Te ves bien – du siehst gut aus», befand die Anruferin wehmütig. «Nur rechts schaut noch eine Haarsträhne seltsam raus.»
Anna stellte ihre Tasse wieder ab, betrachtete ihr Bild kritisch und brachte ihre Haare erneut in Form. «Das soll so aussehen, Mama», widersprach sie. «Und ich muss jetzt wirklich los, sonst komme ich zu spät. Besos a todos – Küsse an alle!»
«Bis später, bonita. Sag’ uns, wie’s gelaufen ist», bat Annas Mutter liebevoll und beendete das Gespräch. Die Projektionsfläche verwandelte sich wieder in einen Spiegel zurück.
Anna schloss die Augen für einen kurzen Moment und holte tief Luft. Dann ergriff sie das grössere Abzeichen der Sternenflotte, das noch auf der Kommode lag, betrachtete es einen Moment nachdenklich in ihrer Handfläche und heftete es dann auf ihrem linken Brustkorb an ihre Uniform. Noch einmal holte sie tief Luft und tippte mit einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel auf das Abzeichen, um den Kommunikator zu aktivieren.
«Ramirez an Sternenflotten-Hauptquartier. Eine Person bereit zum Transport», sprach sie und trat zwei Schritte zurück in die Mitte des Raums. Einen Moment später löste sie sich im Transportstrahl auf und hinterliess eine leere Wohnung.
Anna nickte dem Transporter Chief zu und trat vom Podest des Transporters herunter, auf dem sie sich vor einer Sekunde materialisiert hatte. Sie schritt durch den offenen Türbogen hinaus in die grosszügige Empfangshalle des Sternenflottenkommandos. Die Sonne des Frühlings in San Francisco schien durch die hohe Fensterfront herein und erfüllte den Raum mit hellem Licht. Anna wurde ein wenig geblendet und musste ihre Augen zusammenkneifen.
Sie liess ihren Blick durch die Halle schweifen, der kurz auf dem Hologramm der U.S.S. Enterprise zu ruhen kam. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Dann lief sie quer durch die Halle und begab sich in einen Turbolift, sichtlich nervös. «Elfter Stock», gab sie dem Computer ihr Ziel per Sprachbefehl. Die Türen schlossen sich.
Im elften Stock angekommen, ging sie ein paar Meter den Gang hinunter und trat links in ein leeres Vorzimmer, das mit dem Rang und Namen «Rear Admiral Richard Dunleavy» angeschrieben war. Die Tür zum dahinterliegenden Büro war offen und sie blickte neugierig hinein. Es war ein grosszügiger Raum mit einer Fensterfront und holzvertäfelten Wänden, die von einigen eingerahmten Bildern geschmückt wurden. Hinter dem Schreibtisch aus dem gleichen Holz waren die Flaggen des Sternenflottenkommandos und der Vereinten Förderation der Planeten drapiert. Ein älterer Offizier mit kurzgeschorenen weissen Haaren sass hinter dem Schreibtisch und blickte auf, als er Anna im Türrahmen wahrnahm. Erfreut erhob er sich und winkte sie einladend herein.
«Anna, schön Sie zu sehen. Wie geht’s Ihnen?», begrüsste er sie freundlich und deutete auf den Konferenztisch. «Kommen Sie rein, setzen Sie sich. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?»
«Danke, Admiral, wieder gut genug. Ich hatte heute schon zu viel Kaffee, von daher: nein, danke. Ich bin schon nervös genug.» Anna blickte sich kurz um, bevor sie sich in einem der zwei Sessel auf ihrer Seite des Tisches niederliess. «Wie lange ist es her, dass ich das letzte Mal hier war?»
«Vor vier Jahren, an Ihrer Beförderung zur Commander. Ich habe eben einen Blick in Ihre Akte geworfen, darum weiss ich das wieder», meinte der Admiral augenzwinkernd.
«Fühlt sich nach einer Ewigkeit an», konstatierte Anna ernst.
Admiral Dunleavy zögerte kurz, bevor er das Thema wechselte. «Ich habe mich gefreut, als mich Counselor Donovan über Ihre Diensttauglichkeit informiert hat», meinte er und setzte sich Ramirez gegenüber an den Konferenztisch.
«Keine Sekunde zu früh, Admiral. Meines Erachtens hätte er mich schon vor einem Monat für tauglich erklären können.» Annas Stimme klang halb vorwurfsvoll, halb ungeduldig.
«Oder es ist der perfekte Zeitpunkt. Denn ich glaube, Sie sind die Richtige für diesen speziellen Auftrag», beschwichtigte Dunleavy und blickte sie einen Moment prüfend an. «Aber das sehen wir gleich. Schon von Projekt ‹Echo› gehört?»
«Nein, Sir», erwiderte die Commander mit einer Mischung aus Zweifel und Neugierde.
«Gut.» Der Admiral nickte. «Das Projekt ist nämlich als streng geheim eingestuft. Es geht um eine experimentelle Sensortechnologie mit dem Potenzial, getarnte Schiffe aus einer grossen Distanz zu lokalisieren. Ca. achtzigmal grösser als heute. Ich muss Ihnen nicht sagen, was diese Technologie für unsere Kriegstruppen bedeuten würde.»
Ramirez hob beeindruckt die Augenbrauen. «Faktor achtzig? Das würde einen Höllenunterschied machen, Admiral.»
«Richtig», Dunleavy zeigte mit einem erneuten Nicken seine Zustimmung. «Der Haken an der Sache: Die Technologie ist noch nicht serienreif. Im jetzigen Zustand ist ihr Einsatz riskant. Für die weitere Entwicklung müssen wir jetzt raus aus dem Labor ins All. Dazu rüsten wir gerade ein Schiff mit einem Prototyp aus und stellen die richtige Crew zusammen. Ich habe dabei an Sie gedacht.»
«An mich?» fragte Ramirez erstaunt. «Ich hätte erwartet, dass Sie mich einem Schiff mitten im Kriegsgeschehen zuweisen – und nicht als Erste Offizierin auf eine Testfahrt mit ein paar Ingenieuren schicken. Ist das nicht Verschwendung von meinen Fähigkeiten und meiner Erfahrung? Zumal ich den Feind gerade monatelang aus allernächster Nähe erlebt habe und das Wissen jetzt einsetzen kann… und will», fügte sie mit Nachdruck hinzu. «Oder verfügen alle Schiffe an der Front über diese Erfahrung und sind voll besetzt?»
«Ja und nein», gab sich der Admiral mehrdeutig und lehnte sich zurück. «Klar könnten wir Sie an der Front brauchen. Ihre Gefechtserfahrung und vor allem Ihre Einblicke in die Denkweise des Dominion sind Gold wert. So viele Kriegsgefangene kehren schliesslich nicht lebend zurück.» Er hielt nach diesem bedrückenden Satz kurz inne, bevor er sich zwang fortzufahren: «Gleichzeitig ist ein Einsatz an der Front auch ein gewisses Risiko, weil Ihr Trauma vermutlich noch nicht voll verarbeitet ist. Aber für die Mission ‹Echo› können wir das Risiko eingehen. Oder müssen wir sogar. Aus zwei Gründen.»
Dunleavy erhob sich aus seinem Sessel, trat ans Fenster und blickte hinaus. «Erstens werden wir die Echo-Technologie irgendwann auch an der Front testen müssen», fuhr er fort, ohne Ramirez anzublicken. «Es wird Feindberührung geben – nicht sofort, aber früher oder später schon. Dafür braucht die Crew Ihre Kriegserfahrung.»
«Und zweitens?» bohrte Anna nach.
«Zweitens geht es nicht um den Posten der Ersten Offizierin, sondern den der Kommandierenden Offizierin.» Nun drehte sich Dunleavy um und sah Ramirez direkt in die Augen. «Sie würden das Kommando über die Mission haben.»
Commander Ramirez machte den Eindruck, als habe sie falsch gehört. «Ich soll die Mission leiten?» fragte sie ungläubig.
«Richtig. Denn drittens», ergänzte der Admiral und reichte ihr ein PADD, «sind Sie einzigartig dafür qualifiziert, mit dem leitenden Wissenschaftsoffizier zusammenzuarbeiten.»
Anna ergriff zögerlich das PADD, ihre Augen noch skeptisch auf das Gesicht des Admirals gerichtet. Nach einem kurzen Moment richtete sie ihren Blick auf das PADD und überflog die Besatzungsliste. Sie runzelte die Stirn und schüttelte vehement den Kopf.
«Morro? Zelan Morro ist der Chief Science Officer?» Ihre Augen richteten sich wieder auf Dunleavy. «Ausgeschlossen! Das soll wohl ein Scherz sein, Sir.»
«Ganz und gar nicht, Commander Ramirez», wurde Dunleavy nun formell. «Nach allem, was zwischen Ihnen passiert ist, sind Sie genau die richtige, Morros Genie und Forschungsdrang in die richtige Bahn zu lenken und sicherzustellen, dass uns das Projekt nicht um die Ohren fliegt.»
Anna konnte es noch immer nicht fassen. Ihr ungläubiger Blick wechselte vom Admiral zum PADD und wieder zurück. «Mit allem Respekt, Sir. Ich halte das für eine sehr schlechte Idee. Wir haben seit der …» Ihre Stimme versagte. Sie musste sich räuspern und nahm eine verteidigende Körperhaltung ein. «Seit dem Vorfall auf der U.S.S. Oppenheimer haben wir keinen Kontakt mehr. Mit Verlaub, die Besetzung von Morro als Chief Science Officer ist meines Erachtens die falsche Wahl. Und sie wird bestimmt nicht besser dadurch, dass ich ihn kommandieren soll!»
«Er hat die Technologie entwickelt. ‹Echo› ist seine Kreation», stellte der Admiral mit entschiedener Stimme klar. «Ohne ihn gäbe es den Prototypen nicht. Und sein Prototyp kann uns in diesem Krieg den Hintern retten.»
Es vergingen einige Sekunden angespannter Stille. Es war zu erkennen, wie es in Anna Ramirez arbeitete und sie nach Argumenten suchte. Schliesslich legte sie das PADD auf den Tisch und ihre Körperhaltung entspannte sich etwas. «Das war mir nicht bewusst, Sir.»
«So, wie ich das sehe, Anna, biete ich Ihnen drei fantastische Gelegenheiten.» Auch Richard Dunleavys Spannung fiel nun, als er sich auf den Sessel an ihrer Seite setzte und sie wie ein wohlwollender Mentor anblickte. Er zählte auf: «Sie erhalten Ihr erstes Kommando. Sie erhalten die Chance, einen kriegsentscheidenden Beitrag zu leisten und das Dominion für Ihre Kriegsgefangenschaft bezahlen zu lassen. Und wer weiss, Sie erhalten vielleicht die gute Freundschaft zurück, die Sie mit Morro hatten. Das klingt nach einem einmaligen Angebot, wenn Sie mich fragen.»
Anna Ramirez biss sich grübelnd auf die Lippen. «Ich bin ganz offen, Admiral. Mir das Kommando zu geben, halte ich nach wie vor für keine gute Idee. Ist das ein Befehl?»
Der Admiral erhob sich wieder aus dem Sessel und kehrte auf die andere Seite des Tischs zurück. «Sagen wir es so: Sie lassen mich schlecht aussehen, wenn Sie Ihr erstes Kommando ausschlagen. Ich habe ziemlich viel Überzeugungsarbeit in der Admiralität leisten müssen, Ihnen solch einen Posten so unmittelbar nach dem Counseling anbieten zu können», erklärte der Admiral. «Darum behalten Sie vorerst auch nur den Rang einer Commander, weil wir erst beweisen müssen, dass es eine gute Idee ist. Aber um es ganz klarzumachen: Sie sind in dieser Konstellation ohne Wenn und Aber die beste Commanding Officer für die U.S.S. Tycho. Davon bin ich zusammen mit ein paar anderen Admirals felsenfest überzeugt. Wir brauchen Sie unbedingt, die anderen Optionen bereiten uns viel mehr Bauchschmerzen.»
Anna Ramirez sank in ihren Sessel zurück und atmete hörbar aus. «Ich bin überwältigt, Sir. Mit so einer Herausforderung habe ich nicht gerechnet.» Sie hielt kurz inne. «Vielen Dank für das Vertrauen. Ich weiss ehrlich nicht, ob ich bereit dafür bin und was ich jetzt sagen soll.»
«Wie wär’s mit ‹Aye, Sir›?» Er hob das PADD vom Tisch auf und reichte es ihr erneut. Dann verdüsterte sich sein Blick. «Lassen Sie uns diesem verdammten Krieg endlich ein Ende bereiten.»
Ramirez sah Dunleavy einen Moment lang direkt in die Augen. Dann erhob sie sich, straffte ihre Uniform und nahm das PADD entgegen. «Aye, Sir. Danke, Sir.»
«Sehr gut. Ich informiere die Admiralität und Besatzung.» Dunleavy lächelte sichtlich erleichtert. «Die Tycho ist ein feines Schiff. Sie liegt im Raumdock im Orbit und ist in den nächsten 48 bis 72 Stunden zum Auslaufen bereit. Sie müssen nur noch eine oder einen Chief Engineer finden, die Crew ist ansonsten schon komplett. Guten Flug und viel Erfolg, Anna.»